- Entbehrung
Entbehrung. Wenn die ursprünglichen Bedürfnisse (sd.) der Menschen gegen die Wagschale der erworbenen schon längst aus allem Gleichgewicht gekommen sind und die fortschreitende Civilisation in allen Beziehungen den Kreis der letztern unendlich und fast unabsehbar erweitert hat, so wird doch die Lehre der Moral: in der Entbehrung den höchsten Genuß zu suchen, nie völlig vergessen werden können. Wie wurde auch ohne diese erhabene Wahrheit die bei weitem größere Hälfte des Menschengeschlechts bestehen können, und mehr noch, wie wäre es außerdem möglich, in der Seele des Entbehrenden den Frieden, die Heiterkeit zu finden, die gerade weniger das Erbtheil derjenigen zu sein pflegen, denen die Nothwendigkeit, zu entbehren, fern geblieben ist. Wenn es nun durch natürliche Bestimmung und durch die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens das schöne Geschlecht namentlich ist, welchem in seiner Stellung zur Welt und zum stärkeren Geschlecht Entbehrungen der mannichfachsten Art auferlegt zu sein scheinen, so ist ihm wohl eben damit der Vorzug geblieben, für die reinen und höhern Freuden der Natur, des Herzens, der Häuslichkeit empfänglicher, gefühlvoller zu sein. Darum, wenn das Gemüth der Jungfrau, der keuschen Rose gleich, die in stiller Mondnacht den verschlossenen Kelch mit der Fülle des duftig blühenden Lebens sprengte, zuerst von des Daseins höchster Wonne ergriffen wird, steigt mit dieser Seligkeit ein glänzend goldener Tag herauf am Horizonte der verschleiernden Dämmerung, und eine Welt voll bunter, schimmernder Bilder, durch die Erinnerung an die dunkel glühenden Träume einer in Nebel zurückgesunkenen Vergangenheit gehoben, breitet sich vor dem Blicke aus, der zuerst in die Freuden des Lebens dringt. Darum die edle Treue der Frauen, ihre Zuversicht, ihr gläubig frommer Sinn und das Vertrauen ihrer Hoffnung. Das Entbehren ist der Genuß selbst und die Würze desselben; denn durch die Nacht der Entbehrung schimmert, wenn auch fern, doch unvergänglich der Stern der Hoffnung und auf glatten Wogen schwimmt der Kahn des Glaubens hinüber zu den grünen Ufern, die vor dem Auge der Sehnsucht wie mährchenhafte Traumbilder gaukeln. Darum rufen wir mit Schiller:
Wer im Besitze, der lerne entbehren,
Und wer im Glücke ist, der lerne den Schmerz! T.
http://www.zeno.org/DamenConvLex-1834.