- Lucretia
Lucretia. Ein König versündigte sich an der Gattentreue, an der Keuschheit Lucretia's, und an diese Versündigung kettete sich der Sturz eines Königthums. Der laute Wehruf der geschändeten Tugend erschütterte einen Thron, die Verletzung der weiblichen Würde in Einem Weibe gestaltete einen Staat um. Dieß geschah im Jahre 509 vor Chr. G. – Zu dieser Zeit herrschte über Rom König Tarquinius, mit dem Beinamen der Stolze, Uebermüthige. Häufig war er, seiner Härte wegen, mit den benachbarten Völkerschaften in Kriege verwickelt, die er meistens glücklich beendigte. Eben stand er bei einem Feldzuge gegen die Rutuler vor ihrer Hauptstadt Ardea, die er belagerte. Die Stadt hielt sich tapfer, die Belagerung zog sich in die Lange, und die Langeweile im Lager verleitete die Römer zur Schwelgerei. Eines Tages kam an der Tafel des Königs das Gespräch auf die Weiber, Jeder rühmte seine Gattin, vor Allen aber pries ein Verwandter des königl. Hauses, Namens Collatinus, die Reize seiner jungen Gemahlin Lucretia, die er aus dem Dunkel einer Landstadt hervorgezogen und sich erst kürzlich angetraut hatte. Vom Weine aufgeregt, beschlossen die jungen Männer, sich auf die Rosse zu werfen, um – da die Entfernung nicht groß war – das Wunderbild der Schönheit zu überraschen. In dieser übermüthigen Gesellschaft befanden sich auch die Söhne des Königs, von Charakter dem Vater ähnlich. – Im Kreise ihrer Sclavinnen fanden sie Lucretia, spinnend, das Abbild der Schönheit, aber auch der Sittsamkeit, Tugend und Anspruchslosigkeit. Der unreine Sinn des ältern Königssohnes Tarquinius Sextus, der hier ein anderes weibliches Wesen, als seine stolze, üppige, leichtfertige Gattin fand, fühlte sich, statt in Demuth der Tugend und Sinnesreinheit zuhuldigen, durch Lucretia's hohe Erscheinung zur heftigsten und unlautersten Liebe entbrannt. – Nach kurzem Verweilen und nachdem Collatin's Begleiter einstimmig sein Glück gepriesen und Lucretia den Preis der Schönheit zuerkannt, ritten sie alle nach dem Lager zurück. – Tarquinius blieb still und brütete über seinem verruchten Plan. Nach zwei Tagen entfernte er sich heimlich aus dem Lager, flog zur Nachtzeit in die Stadt und drang in das Haus des Collatinus. Lucretia, allein, im Begriffe ihr Lager zu suchen, begrüßt ihn mit Verwunderung, aber als Verwandten und Königssohn dennoch mit der gebührenden Achtung. Da Tarquinius sieht, daß Alles im Hause schon zu Bette ist, drängt er sie in ihr Schlafgemach und bedroht sie mit dem Tode, wenn sie laut zu rufen wagt. Dann erklärt er der erschrockenen, bleichen, zitternden Frau, was ihn hierher geführt, was er wünscht. Sie antwortet ihm mit Abscheu. Er zieht den Dolch, droht, sie zu ermorden, einen gleichfalls getödteten Sclaven in ihr Bett zu legen, und dann zu sagen, wie er die Ehre seines Vetters zu rächen, beide ermordet habe. – Der Tod schreckte Lucretia nicht, aber entehrt sterben, einen mit Schmach beladenen Namen hinterlassen, vom geliebten Gatten verflucht, von der Familie verabscheut, – das war mehr als tausendfacher Tod. Händeringend, bittend, flehend wird sie von ihm überwältigt; sie erwacht aus einer tiefen Ohnmacht – sie ist entehrt – ihre Schande gewiß. – Sie durchweint die furchtbarste Nacht. Mit dem ersten Morgengrauen sendet sie nach ihrem Gatten in's Lager und zu ihrem Schwiegervater nach Rom. Sie beschwört sie, alle Familienglieder zusammen zu berufen. Sie selbst hüllt sich in Trauerkleider. Sobald alle ihre Verwandte versammelt sind und sich Verwunderung und Spannung auf jedem Antlitz malt, erzählt Lucretia unter Thränenströmen den ihr widerfahrnen Schimpf. Alle gerathen in die fürchterlichste Wuth über das Bubenstück – Lucretia spricht kein Wort mehr, vergießt keine Thräne mehr – sie erfaßt einen Dolch, den sie verborgen hielt und drückte sich ihn in das Herz. »Schwört mir,« ruft das schöne Weib mit brechender Stimme, »daß ihr die Unthat rächt, daß ihr dem Verbrecher blutig lohnt.« Sie sinkt sterbend in die Arme ihres Gatten. Junius Brutus, ein naher Verwandter Collatin's, vor Kurzem vom Könige beleidigt, nähert sich der Leiche, entwindet den Dolch ihrer Hand, schwingt ihn hoch und ruft: »Bei diesem Blute, das einst so rein war, das erst durch eines Buben Schandthat befleckt wurde, schwöre ich, daß ich den König, die Königin und ihre Kinder mit Feuer und Schwert verfolgen, und nicht rasten will, bis dieß ruchlose Geschlecht vernichtet ist. Ihr ewigen Götter seid Zeugen meines Schwures!« – Alle wiederholten den Schwur und Brutus hielt Wort. Lucretia's Leichnam setzte man vor die Thüre des Hauses; allen Vorübergehenden wurde die Frevelthat und der Opfertod des edlen Weibes erzählt. Aus dem Mitleid stachelte man die Rache auf. Bald haben der Vater, der Gatte und Brutus eine Zahl edler Jünglinge gesammelt; man besetzt die Thore der Stadt, damit Niemand dem Könige Kunde bringen kann. Die Uebrigen ziehen nach Rom; die bewaffnete Schar wächst bei jedem Schritte. So wälzt sich der Zug nach dem Forum, hier besteigt Brutus die Rednerbühne und spricht zum Volke, jedes seiner Worte ist ein Pfeil, jeder Gedanke ein Feuerbrand! Er schildert das Attentat, spricht von den Unthaten des Königs, von der Lasterhaftigkeit der Söhne, von dem Vergehen der Mitglieder der Dynastie! – Der Tumult erwächst zum Aufruhr. Das Volk brüllt: »Nieder mit dem König und den Seinigen!« – Lucretia's Vater warf sich zum Befehlshaber der Stadt auf; in das Lager eilten Junius Brutus und Collatinus, um die Truppen aufzuwiegeln; dieß gelang denn auch. Tarquinius, der bereits von dem Aufstande Kunde erhalten hatte, ging inzwischen nach Rom. Er fand die Thore verschlossen – nach seiner Rückkehr in's Lager verweigerte man ihm den Gehorsam. Die königliche Familie wurde vertrieben und irrte lange flüchtig umher. Den jungen Tarquinius, den Ehrenschänder der großen Römerin, ereilte die zeitliche Strafe. Er wurde zu Gabii von den Einwohnern, an welchen er früher sich schändlich versündigt hatte, ermordet.
B.
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