- Müller, Sophie
Müller, Sophie. Trotz der Rückschritte der dramatischen Dichter Unserer Zeit hat die darstellende Kunst einen Höhepunkt erreicht, dem selbst die Kunstrichter und Bewunderer einer vergangenen Periode ihre Anerkennung nicht versagen können. Sonderbarer Weise sind mit der Unzulänglichkeit der dichtenden Kräfte die Anforderungen der Kritik in's Riesenhafte gestiegen, man bedenkt nicht, daß sich das Talent keineswegs amphibisch ergänzen und mithin vergrößern kann, man ist absprechend, bevor man sich die Mühe gegeben, etwas anerkennen zu wollen, man anatomirt das Gebilde, bevor man untersucht hat, ob noch Lebenskraft darin weilt. Wohl tragen einen großen Theil der Schuld die Talente der Zeit, den größern aber die Kritik, die Lauheit der Zeitgenossen, ihre Ueberfeinerung, ihre totale Passivität. Mit der Kritik beginnen sie den eigenen Schöpfungsproceß, einen unbefangenen Genuß kennen sie nicht mehr, sie verbittern sich denselben, indem sie wie Kinder das Kaleidoskop zerbrechen, um über seinen sinnreichen Bau in's Klare zu kommen. Aber wunderbarer Weise hat diese Zeit darstellende Talente hervorgebracht, die das Vergangene und Gegenwärtige mit einer Kunst, mit einem Genie verkörperten, wie sie die Vergangenheit nicht bot. War es die Einsicht und Praxis der frühern Decennien, waren es die Muster der Meister, welche von den Schülern überboten wurden, war es die Reise, die aus der Zeit gediehen, eine Schickung, die dort ersetzt, wenn sie hier geraubt, war es Zufall, Bizarrerie der Schöpfung, Resultat der Verfeinerung?? Wir wissen es nicht, wir wollen es nicht bestimmen. Uns genüge das Vorhandene, warum seinen Werth verkümmern durch Beweise, daß es so kommen mußte, warum das Verdienst schmälern, dadurch, daß man ihm seine Lehrstunden nachrechnet? – Sophie Müller war Schauspielerin in einer Zeit, wo Talente von bedeutender Größe und vielem Ruhme glänzten, wo der Wetteifer zur Lebensfrage wurde. Eine leuchtende Erscheinung tauchte sie auf, strahlend ging sie vorüber, mit Bewunderung folgt ihr die Erinnerung. Es liegt etwas Schmerzhaftes für ihre Verehrer darin, daß sie von denen, welche dieses Mädchen nicht gesehen, nicht verstanden werden. Es ist aber das Loos der darstellenden Künstler aller Zeiten. »Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze.« An Sophiens Wiege standen die Grazien, die Poesie gab ihr den Weihekuß. Sie ward nicht Nachbildnerin des Dichters, sie ward selbst Dichterin. Was sie spielte, erlebte sie; ihr theatralischer Schmerz, ihre Freude war wirklich; was sie schildern wollte, empfand sie, ihre Individualität wurde mit der Dichtung Eins. Es war eine Wahrheit des Talentes in ihr, die Natur, Wirklichkeit, Entäußerung aller Individualität wurde. Ihr war die Macht gegeben, durch ein Wort die Brust des Hörers mit Entzücken oder sein Auge mit Thränen zu erfüllen. Den Glauben an das, was sie sprach, erwarb sie als Siegerin. Sie lebte mit der Dichtung, es war die höchste Selbsttäuschung in dieser Wahrheit, es war das Aufbieten aller Kräfte, welche für die Wirklichkeit selbst erforderlich gewesen wären! Aus ihrer Brust sprach der Gott mit Flammenworten, aber die Flammen verzehrten auch diese Brust. Wie konnte der Schmerz, den die Phantasie zur Wahrheit machte, zum eigenen, selbsterlebten, spurlos vorüber beben, ohne Eindruck, ohne allmälige Vernichtung! Wie der Seidenwurm sein kurzes Dasein nach und nach verspinnt, und das eigene Grab sich windet; so Sophie Müller. – Sie lebte die Wonnen und Schmerzen ihrer Dichter, aber es waren mehr der Schmerzen, und zu viele für ein irdisches Herz. So starb sie, ähnlich der Nachtigall, der das Lied die Brust zersprengte. Ihr ganzes Leben war ein Schwanengesang, jeder Moment desselben eine Melodie davon; des Regenbogens Prachterscheinung ist seine Vergänglichkeit; in der Vernichtung lebt er, und durch sie, wie das Feuer, wie alles Leben im Leben-Verzehren. – Ihre Auffassung, ihre Darstellung, ihre Höhepunkte in einzelnen Leistungen hier kritisch abhandeln, ihre Gesammtbildungen anatomiren wollen, wäre nach dem Gesagten ein unerquickliches Beginnen. Wer sie nie gesehen, dem schildert sie unser Wort vergebens, und wer sie bewunderte, dem müßte der Schilderer als lästiger Schwätzer erscheinen. Für ihre Verehrer genügt ihr Name und allenfalls ihr Bild. Als sie auf einem deutschen Theater, wo sie noch nicht bekannt war, zum ersten Male auftrat, entlockte sie in den ersten Worten der Semiramis (»Tochter der Luft«): »Oeffne die Pforte, sonst spreng' ich die Riegel!« die sie hinter der Scene spricht, Thränen den Augen der Zuschauer. Die Macht ihres Organs war eine allgewaltige, es war der Grundton der Seele, ihr Auge sein Spiegel, ihre ganze Erscheinung ein Götterbild, ihr ganzes Wesen aber Liebe. Noch auf dem Todtenbette sorgte sie für die Versorgung ihres Vaters. Sie vergalt selbst da Liebe, wo sie ihr nicht im gleichen Maße zu Theil wurde. Die ihr am nächsten standen, verstanden sie am wenigsten; aber es war ja ihre Bestimmung als Elegie enden. Darum keine Thräne ihrem frühen Tode. Sie haben ihr einen bescheidenen Grabstein gesetzt; in den Herzen ihrer Bewunderer bedarf sie keines. Sie hat die Erinnerung einer Generation. Kein Frühling aber ist so reich, um genug Kränze für ihr Haupt oder für ihren Grabhügel zu liefern. Nicht uns, die wir sie gesehen, nicht sie bedauern wir ob des frühen Endes; nur die Dichter, welche ihre Julie, Diana, Johanna, Gabriele, Luise, Thekla, Ophelia, Olga, Emilia, Clementine etc. von ihr verkörpert und vergeistigt nicht sahen. Ihre Biographie, was man so benennt, ist kurz; sie war die Tochter eines Schauspielers Karl Müller, wurde am 19. Januar 1803 zu Manheim geb., gastirte auf den ersten deutschen Bühnen, und starb in Hietzing bei Wien, nachdem sie mehrere Jahre Mitglied des Hofburgtheaters gewesen, den 20. Juni 1830, mitten zwischen Blumen, Sonnenschein und Frühlingslüften. Dort schlummert sie auf dem baumgeschmückten Kirchhof, wie sie es drei Jahre vor ihrem Tode schon gewünscht. »Ach, das ist doch ein gar lieblicher Friedhof, da ließe es sich wohl einmal recht angenehm ruhn,« sagte sie damals, und dort ruhte sie bald. 14 Monate hatte ihre Jugendkraft der Gewalt der Krankheit widerstanden. Unter ihren Papieren fand man folgende Verse:
»Sein oder Nichtsein? – Mir ist's eine Frage,
Auf die gewiß mir heil'ge Antwort wird.
Gedenket der, die bald zu sel'gem Tage
Der Nacht entflieht, wo nur das Herz sich irrt.
Verwandten Seelen, die sich niemals trennen,
Ist Tod nur Näherung und ew'ges Anerkennen.«
Edel und erhaben, wie in der Kunst, war sie im Leben. Der Graf Mailath hat ihr Tagebuch, ihren Briefwechsel und die vielen Gedichte, welche von den ersten Geistern Deutschlands ihrem Stammbuch einverleibt worden, unter dem Titel: »Leben der Sophie Müller« etc. herausgegeben.
–n.
http://www.zeno.org/DamenConvLex-1834.