Pyramus und Thisbe

Pyramus und Thisbe

Pyramus und Thisbe. In der Geschichte dieses jungen Paares liegen alle Elemente zu einem sentimentalen Liebesroman. Thisbe war eine reizende Babylonierin, welche einen nicht minder reizenden Nachbarssohn liebte und von diesem auf das Zärtlichste wieder geliebt wurde; aber die Aeltern beider waren voll Haß gegen einander und hätten eine Vereinigung der Liebenden nie gestattet. Doch zu allen Zeiten fand heimliche und glühende Liebe ihre Wege, und so wurde bald eine Mauerspalte zwischen den Nachbarhäusern die Pforte, durch welche, wenn nicht die Liebenden selbst, doch ihr trauliches Kosen und ihre heiligen Schwüre dringen konnten. Aber je mehr sie sich hier unbelauscht sprachen, um so mehr wuchs auch das Verlangen, einander ganz nahe zu sein, und in zärtlicher Umarmung das Glück der Liebe im vollen Umfang zu genießen. Beide verabredeten nun eine Zusammenkunft an einer einsamen und gemiedenen Stelle. Sie wollten einander im Dunkel der Nacht bei dem Grabe des Königs Ninus treffen. Die Nacht senkte sich nieder, zu langsam fast der Ungeduld der Liebenden, und der Mond streute sein Silberlicht auf die Riesenstadt, ihren ragenden Wolkenthurm, ihre cyclopischen Mauern, ihre hangenden Gärten, auf die hohen Cypressen, die das Mausoleum umschatteten, und auf den weißen Maulbeerbaum, an dem sich die Liedenden finden wollten. Thisbe kam mit bangem, klopfendem Herzen. Alles war noch still, sie lauscht in die Mondnacht, sie späht nach dem Freund – jetzt nahen Tritte, jetzt rauschen die Myrrhensträuche –, ist's der Geliebte? – Entsetzen! Ein Löwe tritt aus dem Gebüsch. Noch ist sein Rachen blutig von eben verzehrter Beute; einen Angstschrei stößt Thisbe aus und entflieht eilenden Laufs, sich in die Schatten des Grabmals bergend. Der satte Löwe verfolgt die Fliehende nicht, er spielt nur mit dem Schleier, der ihr entfallen war, zerreißt ihn und macht ihn blutig, und geht ruhig in sein Gebüsch zurück, eben als Pyramus auftritt, dem ein jäher Schreck durch die Seele zittert, als er den Löwen wandeln sieht und nun unter dem Maulbeerbaum den blutigen Schleier findet. Dieß ist, so wähnt er, der ganze Ueberrest seines unglücklichen, so innig geliebten Mädchens, und verzweiflungsvoll, weinend sich als ihren Mörder anklagend, weil er sie zu dieser Zusammenkunft beredet, stürzt er sich in sein Schwert. Als alles um sie her tief still bleibt, wagt sich zitternden Fußes Thisbe, die nicht begreift, warum so lang der Geliebte säume, aus ihrem Versteck, entdeckt den Leichnam desselben und durchsticht sich verzweiflungsvoll mit seinem Schwerte die eigene Brust. Vom Blute der Liebenden getränkt, färbten sich die Früchte des weißen Maulbeerbaumes dunkelroth.

–ch–


http://www.zeno.org/DamenConvLex-1834.

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