- Völkerwanderung
Völkerwanderung. Lange schon hatten die barbarischen deutschen Völker mit lüsternem Auge die reichen, trefflich angebauten römischen Provinzen sich zur neuen Heimath ausersehen, doch noch wiesen die kriegsgeübten Legionen der Cäsaren sie stets blutig zurück. Gegen Ende des 4. Jahrh. begann aber eine sich vom Eismeer bis zum atlantischen Ocean erstreckende Völkerbewegung, welcher das nach Innen und Außen gleich zerrüttete Westreich der Römer nicht mehr widerstehen konnte. Diese Revolution, gewöhnlich die Völkerwanderung genannt, dauerte fast zwei Jahrh. (375 bis 568) und bildete ganz neue, zum Theil noch jetzt bestehende Reiche, in denen die sogenannten lebenden Sprachen entstanden. Den ersten Anstoß gaben (375) die Hunnen im nordöstlichen Asien. Von den Chinesen aus ihren Wohnsitzen vertrieben, wandten sie sich gegen Westen und fanden im südl. Rußland und Polen die Alanen und Westgothen. Die Alanen flohen durch Deutschland, wo sie sich durch die Vandalen und Sueven verstärkten, nach Gallien, plünderten dieß schon damals überaus fruchtbare Land zwei Jahre hindurch, und zogen dann über die Pyrenäen nach Spanien. Hier theilten sich die drei Schwärme wieder, weßhalb es ihren neuen Reichen an Kraft fehlte und sie den Angriffen der vereinten Römer und Westgothen erlagen. Nur die Vandalen hielten sich bis 427, gingen dann nach Afrika über und stifteten dort das 105 Jahr blühende vandalische Reich, welches Justinian's großer Feldherr, Belisar, 534 wieder vernichtete. Seit 377 wohnten die Hunnen in Pannonien und verwüsteten auf wiederholten Zügen, besonders unter Attila (s. d.), Gallien und Italien. Sie erlitten 451 und 489 starke Niederlagen und verschwinden nach der letzteren Schlacht aus der Geschichte. Die schlimmsten Feinde der Römer waren indeß die West- und Ost-Gothen. 410 eroberte Alarich, König der Westgothen, Rom. Von hier aus zogen sie durch Gallien nach Spanien und errichteten das westgothisch-spanische Reich, dem die Araber 714 wieder ein Ende machten. Die Ostgothen, von den Römern am Don und schwarzen Meere angesiedelt, eilten 489 unter ihrem großen Könige Theodorich nach Italien, wo Odoaker, Anführer der Heruler und Rugier, 476 das weströmische Reich aufgelöst hatte. Theodorich vereinigte 493 das ganze Land unter seiner milden Herrschaft. Doch schon 554 fiel Italien, nach Belisar's und Narses Siegen, unter die Herrschaft der Oströmer, denen es inzwischen 568 die Longobarden größtentheils wieder entrissen. Karl der Gr. vereinigte 774 das longobardische Italien mit der fränkischen Monarchie. – Um Gallien mußten die Römer besonders mit den Burgundern und Alemannen kämpfen, hatten ihnen auch bedeutende Strecken davon überlassen, als 430 die Franken (zwischen dem Rhein, Main, der Weser und Elbe zu Hause) einbrachen und bis zu Ende des 5. Jahrh. die ganze Provinz unterjochten. Auch Deutschland gestaltete sich durch diese Wanderungen ganz anders. Die Sachsen, bereits als Eroberer Englands bekannt, zogen aus Holstein und von den Nordseeküsten in die Wohnsitze der Franken, und bildeten nun gleich den Baiern, Schwaben, Thüringern und Friesen ein Hauptvolk Deutschlands. Nach Polen, Schlesien, Böhmen, Brandenburg etc. wandten sich nun vom Dniestr, Dnieper etc. die Slaven (s. d.). – Die Folgen der V. waren, besonders für Europa, unermeßlich. Nicht allein, daß, wie schon bemerkt, neue Reiche und Sprachen entstanden, auch andere Sitten und Gesetze kamen mit den neuen Völkern auf und schufen einen ganz neuen gesellschaftlichen Zustand. Das germanische Element wurde das herrschende in Europa; leider fing mit ihm für Kunst und Wissenschaft das barbarische Zeitalter an, und erst nach Jahrhunderten begann die Dunkelheit sich wieder zu erhellen.
S.
http://www.zeno.org/DamenConvLex-1834.