- Kirchenmusik
Kirchenmusik. Weniges nur wissen wir von der Kirchenmusik vorchristlicher Zeit. Die Religion war stets der ernährende Schooß der Künste; aber in ihrer roheren Gestaltung blieb sie auch zurück in der Ausbildung dieser. Erst das Christenthum hob sie empor. Seine Gründer und Träger erkannten wohl, daß sie den abstrakteren, geistigern Lehren des Christenthums einen Rahmen geben mußten, der durch die sinnliche Natur der Menschen auf ihre geistige wirke. So errichtete die Baukunst den Thron der Religion, die Malerei und Sculptur verewigte ihre Helden zur bildlichen Anschauung des Volkes und die Musik redete mit der Universalsprache der Menschheit zu den Herzen der Gläubigen. Sie wurde die Favoritin der Kirche, in ihr Allerheiligstes eingeführt und mit dem Kultus verschmolzen; sie wurde ein untrennbarer Theil der äußern Verehrung der Göttlichkeit, das lebendige Gemüth für die kalte Form der Gebräuche. Dafür ward sie mit egoistischer Liebe gepflegt und zur Kunst erzogen; Italien, die Niederlande, Deutschland – auch Frankreich und Spanien – lieferten Talente, die an ihr bildeten. Nordischer Fleiß schuf theoretische Grundlagen zu einem kühnen Bau, südliche Glut brachte den Keim zur Blüthe. Die Harmonien des Kirchengesanges bauten sich in einfacher Majestät auf, wie die Säulen der Tempel; sie tönten mit hehrer Gewalt, wie die Lehren der Priester im Gewande der Poesie (Palestrina, Allegri, Leo, Lotti etc.); später wölbte sich über ihnen die Melodie gleich den Kuppeln der Kirchen, eine Vermählung der Schönheit mit der Kraft (Pergholese, Jomelli, Mozart, Cherubini etc.). – Jene Musik beruhigte in ihrer edlen Größe und Reinheit die sündlichen Leidenschaften der Menschen, diese erschütterte die Gemüther durch den Flug der Phantasie; beide führten zum Unendlichen, zur Geisterwelt hinaus. – Der protestantische Glaube nahm nur den nackten Thron der Religion in Besitz und verbannte ihre treuesten Dienerinnen; die Musik wurde aus dem engern Kultus des Gottesdienstes verstoßen, ihrer Fesseln entledigt, aber auch ihres hebenden Halts beraubt, und nur der Choral blieb als ein Vereinigungsband der Gemeinde. Protestantische Componisten übten nun freiere Formen und bildeten das Oratorium, das in Italien als Uebergang zur Oper entstanden war (s. d. Art.), zur höchsten Vollkommenheit aus; aus der Kirchenmusik wurde Musik in der Kirche; sie trat als Kunst in unabhängiger Gestalt in die Hallen der Tempel, sie hatte die Bande der Kirche abgestreift und buhlte in Form und Stil mit der weltlichen Musik, nie aber erhielt sie originelle Bedeutung genug, um ihre Erzeugerin verläugnen zu können. So entstanden Meisterwerkekirchlich- epischer und dramatischer Musik (Händel, Bach etc.), aber ihre Heimath war verloren und sie irrte umher zwischen dem Tempel, dem Concertsaal und der Bühne. Die Gegenwart hat ihr in den Musikfesten eine glänzende Zufluchtsstätte eröffnet, aber es ist eine flüchtige. Der Geist unserer Zeit wird seine reformirende Macht auch auf diese Gattung der Musik ausdehnen, um sie vielleicht in einer freiern und originellern Gestaltung zu verjüngen. – So finden wir in Italien, dem Herrschersitz der katholischen Religion, auch in allen Zeiten die wahre Heimath der Kirchenmusik im engern Sinne. Hier feierte sie ihre Jugend, die Triumphe ihrer Reise, hier ruht sie im schwachen Greisesalter, sie kehrte stets dahin zurück, wie ein Kind zur Mutterbrust, und wo sie im Norden erscheint, ist sie wie eine fremde Blume, ihrem Vaterlande entführt und zur künstlichen Blüthe gebracht. Wie ein lebendiges Denkmal hat sich noch in der päpstlichen Kapelle die Ausübung der Kirchenmusik der ältesten und reinsten Periode erhalten und die Werke eines Palestrina, Bai, Allegri, feiern noch jetzt bei den hohen Festen den größten Triumph, welchen die Kunst durch ihre Gewalt über das menschliche Gemüth erringen kann. Auch in den Musikleistungen des Conservatoriums zu Neapel und der Marcuskirche finden wir noch Spuren einer großen Vergangenheit. (S. Italien, Musik.)
– k.
http://www.zeno.org/DamenConvLex-1834.