- Roman
Roman Das klassische Alterthum kannte diese Dichtungsart nicht, denn die wenigen Anklänge, die sich bei einzelnen Schriftstellern der Griechen davon vorfinden, verdienen kaum der Erwähnung. Das Alterthum mit der Begeisterung seines Heldenstrebens, dem starren Willen, sich die Welt unterzuordnen und als Gott der Erde zu walten neben seinen himmlischen Göttern, konnte nur das Epos gebären, so lange die Welt sich erst gestalten und formen sollte aus dem Chaos der kecksten, abenteuerlichsten Gedanken. Später, nachdem bereits die Elemente geschieden und die Völkerstämme sich ordneten zu Staaten, ohne ganz dem alten Trotz zu entsagen, trat an die Stelle des Heldengedichts das Drama. Aber es war nicht das Drama der modern-christlichen Welt, wie es Shakespeare erschuf und wie es mit ihm wieder zu Grunde ging in seiner größten Herrlichkeit. Noch handelten Götter und Dämonen und stellten sich gegenüber dem Menschen in seinem Uebermuth. Es war ein steter Wandel, aber voll Kraft und begeisterten Strebens; jede Stunde ward Mutter eines Ereignisses, die Menschheit im Jugendmuth baute sich das Pantheon der Zukunft. Eine solche Zeit konnte nur dramatisch sein in der Kunst, weil sie von frischem Leben durchduftet war und blieb bis zu ihrem Untergange. Erst mit dem Umsichgreifen des Christenthums, dessen Milde die scharfen Ecken der rohen Menschenkraft und seiner flammenden Begeisterung abstumpfte, und ihn dafür mit der heiligeren Weihe des Genius beschenkte, konnte an die Stelle des unbegrenzten Strebens das ruhigere Ordnen des bereits Vorhandenen treten. Die Menschen hatten unter hitzigen Kämpfen errungen, was sie bedurften, aber der Genuß des Errungenen war ihnen noch nicht geworden. Der Geist des Christenthums mahnte zur Besonnenheit, zum Bekämpfen des Triebes und der Leidenschaft. Die Liebe predigte den Frieden und mit ihm ein neues Leben, eine neue Kunst. Obwohl sich dadurch eine unbezweifelbare Schwache mit einschleichen mußte in's Leben, so war sie doch nicht geboten, und ihr christlicher Sinn eben so weit von Verweichlichung entfernt, als von der rohen, barbarischen Kraft. Aber die Gewißheit, Herr zu sein in einer eroberten Welt bedingt das Entfalten fruchtbarer Lebenskeime. Die Individualität tritt auf mit erhellterem Blick, und sucht darzustellen auch in der Kunst, was nach so langem Ringen endlich ein Eigenthum des Lebens geworden. Dieß ist die Zeit, in welcher der Roman zur herrschenden Gattung sich erhebt. Er beginnt am Grabe des Epos und des Drama's, und gewinnt an Bedeutung, je tiefer hinab jene sinken. Darum ist auch die moderne Gegenwart die eigentliche Pflegerin des Romans, weil sie zu thatenarm, um dem Drama glückliche Stoffe zu liefern. Der R. soll theils das Gewordene in den Kreis seines Lebens ziehen, theils das Werdende zur Vollendung nöthigen. Er hat es nicht allein mit dem Charakter eines Menschen zu thun, sondern mit dem Charakter einer Zeit, einer Epoche, eines Volkes. Deßhalb bewegt er sich im ruhigen Bett der Prosa, durch die das Morgenroth der Poesie nur als pulsender Blutstrom fluthet, in weiter gezogenen Grenzen. Das Mittelalter mit der bunten Farbenpracht seines vielfältig zerspaltenen Lebens, in das die Romantik der ritterlichen Liebe, die Wunder der christlich-heidnischen Sagen- und Fabelwelt, das Waffengeräusch des träumerisch nach Asien wandernden christlichen Gemüthes einen ewigen Wechsel bei allem schon Fertigen brachte, gebar zuerst den Roman, der sich anfänglich noch schaukelte auf der hüpfenden Welle des Liedes, bald aber gerundeter und mehr kunstgerecht in Prosa auftrat. Frankreich, Italien und Spanien, in denen die Romantik zuerst Früchte trug, erzeugten auch die frühesten Romane, bis Cervantes im Don Quixote das erste vollendete Muster desselben aufstellte. In Deutschland währte es schon längere Zeit, ehe der eigentliche R. aus den verworrenen Zuständen, den faustrechtlichen Kämpfen der Ritter und dem ewigen Hader der Machthaber sich bilden konnte. Sobald die romantische Poesie zu Grunde gegangen war, entstanden die Volksbücher von Doctor Faust, Till Eulenspiegel, der schönen Melusine, dem hörnenen Siegfried u. a, denen sich nach Jahrhunderten erst Ziegler's »Asiatische Banise« und Lohenstein's »Armin« anschlossen. Denn der »Simplicissimus« stand zu vereinzelt in seiner schönen, einfachen Kraft da, um als Repräsentant der damaligen Gesammtentwickelung betrachtet werden zu können. Im Anfange des 18. Jahrhunderts gab zuerst England den Anstoß zu einer neuen Formgebung des Romans mit dem Auftreten Richardson's, dessen »Pamela« und »Clarissa« großes Aufsehen erregten, aber in ihrer prüden Tugendhaftigkeit doch nur ein trauriges Zeugniß ablegten von der Abschwächung des Geschlechts und der Mattigkeit des Jahrhunderts. Erst Fielding und vor allen Goldsmith in seinem »Vicar of Wakefield« griffen tiefer ein in das Leben der Zeit, und wußten, obwohl noch in zu kleinlichen, abgeschlossenen Verhältnissen, doch auch mit der Reflexion den Stoff zu durchleuchten und die ersten Anlässe zu einer neuen, lebendigeren Auffassung zu geben. Deutschland blieb nicht zurück. Eine Unzahl von Berufenen und Unberufenen ergab sich dem Romanschreiben. Die Meisten nahmen sich Richardson zum Muster. Die Tugend mußte herhalten und sich streicheln und hätscheln lassen, wie ein Wickelkind. Man ward vor lauter Tugendhaftigkeit lasterhaft, weich, fade, sterbenslangweilig Es gab nichts als weinerliche Familiengeschichten, moralische Leichenpredigten, und das Laster wurde so blöde, daß es nahe daran war am schwarzen Staar zu sterben. Das war die Zeit der Siegwarte, Starke, Lafontaine, denen sich die Klopffechter Cramer, Spieß u. A. anschlossen. Doch konnte diese Krankhaftigkeit nicht lange andauern. Wieland schon suchte, wiewohl zu sehr französirend, bedeutendere Töne anzuschlagen, bis endlich Göthe im »Werther« und später im »Wilhelm Meister« das Muster eines Romans aufstellte, wie ihn das vorige Jahrhundert aus sich selbst gebären konnte. Neben ihm gingen Klinger, Jacobi, Heinse, Schlegel, Tieck, Novalis (Hardenberg), Ernst Wagner, Fouqué, Jean Paul u. A., alle meist einen eigenen Weg verfolgend. Es ward so viel versucht und probirt, um dem Romane Kunstgestalt zu geben, daß man sich über die Productivität der Form selbst wundern muß. Bei alledem kam es zu nichts Festem und Bleibendem. Die Dichter gingen nicht heraus aus ihrer Individualität oder verirrten sich auf Abwege und wollten der Zeit eine Stimmung vindiciren, die ihr nicht mehr in Blut und Nervensaft gegeben war. Einzelne, darunter namentlich Tieck, retteten sich auf eine einsame Insel, auf der sie sich anbauten, und ohne Rücksichtsnahme auf das Bedürfniß der gebietenden Zeit dem heimlichen Gelüst ihrer halb kranken Einbildungen sich überließen. So entstanden die phantastisch-humoristischen Kunstnovellen Tieck's. – Da trat endlich in England Walter Scott auf mit seinem »Waverley,« der in der ergreifenden Kraft des Stoffes wie der Darstellung schnell das ganze civilisirte Europa elektrisirte. Die Geschichte ward zur Folie der neuen Dichtung gemacht und der historische R. trat als der ausgeprägteste Typus dieser Gattung mit Blitzesschnelle in die Welt und in die Literatur. Cooper in Amerika, Manzoni in Italien, in Deutschland der schwächende Van der Velde, später der rohkräftige Spindler, Zschokke u. A. folgten der eingeschlagenen Bahn. Diesen schlossen sich in neuester Zeit Bulwer in England an, und Duller, König, Wilibald Alexis (Häring), Steffens, Rehfues etc. in Deutschland. Auch Tieck fand sich veranlaßt der allgemeinen Aufregung zu folgen und schuf seinen leider noch immer unvollendeten »Cevennenkrieg,« den bisher vollendetsten historischen Roman in deutscher Zunge. Die neuere Zeit blieb im Ganzen diesen Bestrebungen treu, nur ahnte man, daß die Art und Weise der Scottischen Behandlung nicht genügen könne für die Zukunft. Es fehlte den Scottischen R. die Weihe der Kunst. Diese dem Romane zu ertheilen, ward Augenmerk der unmittelbaren Gegenwart, so wenig Gelungenes auch bis jetzt daraus hervorgegangen ist. Der R. kann – darüber ist man einig – nur auf geschichtlichem Grund und Boden gedeihen; allein diese Geschichte muß nicht nothwendig der Vergangenheit angehören, vielmehr ist es größer die Geschichte der Gegenwart mit ihren Kämpfen zum Gegenstande von Romandichtungen zu machen. Denn der R. muß eine Biographie der Geschichte sein, soll er Bedeutung gewinnen für die Zeit und Zeitgenossen. Das fühlten die Jüngeren, darum stürzten sie auf die brausenden Schwingen der Bewegung und suchten poetisch zu schlichten und zu ordnen, was noch chaotisch durcheinander lag im Mutterschooß der Weltgeschichte. Deutsche und Franzosen rangen mit gleichem Eifer um den Preis, und die Franzosen waren in so fern glücklicher, als sie vermittelst des Raffinements und Verachtung aller Gesetze der Kunst und Moral kolossale Gebilde riesenhafter Kraft zu Tage förderten – die unschönen Geburten einer im Schmerz des Gebärens liegenden Zeit! Abgesondert von diesen, ruhiger und mit der Besonnenheit eines weisen Mannes schuf der Verfasser der »Lebensbilder aus beiden Hemisphären« eine Reihe sehr beachtenswerther Werke, die in ihrer oft hohen Gedankengröße den Punkt berühren, wohin der R. der Neuzeit streben soll. Als Verf. dieser ganz einsam stehen den Produkte wird theils Karl Follen in Nordamerika genannt, theils ein Amerikaner Sealsfield. Die Aufgabe der Gegenwart ist es, in den Kreis des R. alle Interessen der Zeit zu ziehen, die Gestaltung der Welt bedingen zu helfen, die Wirren zu schlichten und auf die Poesie einer Zukunft hinzuweisen, deren Keime in frischem Grün aufsprossen aus dem schmerzgesättigten Boden des Tages. Diesen Weg hat man bereits eingeschlagen, und es steht zu hoffen, daß in wenig Jahren der R. eine Gestalt gewinnen wird, wie sie kaum Jemand geahnt hat, die aber Jedermann fesseln und eine Dichtungsart liebgewinnen helfen wird, über deren Tendenz bisher die Meinungen so unendlich getheilt blieben.
W......m.
http://www.zeno.org/DamenConvLex-1834.