- Sokrates
Sokrates. An einem hohen Festtage zu Delphi, wo eben ganz Griechenland sich vereinigt hatte, um dem Pythischen Gotte Opfer zu bringen, stand ein Jüngling von unscheinbarem Aeußeren, dessen leuchtende Stirn aber den Denker verrieth, einsam inmitten der lärmenden Menge vor dem Apollotempel, und las ernst und tiefsinnend die goldene Inschrift über seinem Portale: »Lerne dich selbst kennen!« Da faßte es ihn plötzlich wie mit unsichtbaren Gewalten; ein Strahl erhellt sein Inneres, ein Strahl aus anderen Welten; er sieht einen neuen Tag, ein neues Leben, eine neue Bestimmung. Dieser Jüngling war Sokrates, der arme, unbekannte Sohn eines unberühmten Bildhauers und einer Hebamme. Doch nun tritt er als Verkündiger einer neuen Botschaft von Liebe in Athen, wo er 470 v. Chr. geb. war, vor dem gebildetsten Volke der damaligen Welt auf, zaubert durch seine Unsterblichkeitslehre auf die bleichen Wangen der entgötterten Natur wieder das Lächeln des Himmels, setzt den Pfeilern der zweifelsüchtigen Sophistik (s. d.) die goldene Rüstung des Glaubens an eine Harmonie der Welt entgegen, deutet in anmuthig-gewinnender Rede die Wunder der wahren Weisheit, Tugend und des Himmels in der Menschenbrust, und bildet durch seine eigenthümliche, Alles aus dem Innern der Lernenden selbst entwickelnde Fragmethode (nach ihm die sokratische genannt) Schüler, wie Plato und Xenophon, die würdig das begonnene Werk fortführten. Seine schönste Lehre war jedoch seine That; Ruhe und Liebe sein Wahlspruch; daher er dem Schalten seiner zanksüchtigen Frau Xantippe (s. d.) nur das wohlwollende Lächeln eines echten Weisen entgegenstellte. Aber die Kinder dieser Welt sind klüger als die Kinder des Lichtes: er fiel in die Schlingen seiner Feinde. Angeklagt als Gottesläugner und Verderber der Jugend ward er vom Areopag zum Tode verurtheilt, Und trank im 70. Jahre seines Alters (400 v. Chr.) mit männlicher Festigkeit den Giftbecher.
S....r.
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