- Gelehrsamkeit
Gelehrsamkeit. Zu bestimmen, was und wie viel Frauen aus dem Füllhorne der Wissenschaft sich aneignen sollen, ist schwer; eigentliche Gelehrsamkeit, nämlich erschöpfende Kenntniß aller Theile eines wissenschaftlichen Faches, sei nie das Ziel ihres intellectuellen Strebens. Ich berufe mich hier auf die allgemeine Stimme über sogenannte gelehrte Frauen. Indessen die Gegenwart, der Geist der Zeit und die Anforderungen der Verhältnisse müssen gleichfalls berücksichtigt werden, und diesen zu Folge haben Frauen von heute, wenn sie gebildet heißen wollen, Pflichten in Bezug auf ihren Geist, die man einst nicht kannte. Folgendes kleine Schema dürfte allen Damen, denen es um reelle weibliche Bildung zu thun ist, genügen, – Mit der Kenntniß des Menschen beginnt und endet alles Wissen. Hieraus folgt, daß Geschichte die Grundwissenschaft sei. Die Weltgeschichte aber besteht nicht ohne Menschengeschichte, sie nützt nur durch diese. Man kann die ganze Weltgeschichte auswendig wissen, ohne Vortheil aus ihr zu ziehen; die Geschichte wissen – ist Nichts; sie kennen, verstehen – ist Alles. Wer den Menschen, seinem Doppelwesen nach, kennt, ihn belauscht in der geheimen Werkstätte seiner Seele, ihm folgt in allem seinem Verkehren, dem werden die Räthsel der Weltgeschichte keine Räthsel bleiben, denn er sieht dann nur in dieser in Masse, was er dort im Einzelnen schon kennen gelernt hat: den Menschen, und ihm ist Nichts mehr unerklärlich, Nichts mehr neu. Die Geschichte des Menschen ist auch die der Menschen. Das Studium der Geschichte ist demnach der Grund, auf dem das Gebäude des Wissens sich stützen muß. Alle übrigen Wissenschaften sind die verwandten Tonarten dieses Grundtons; alle führen auf ihren eigenthümlichen Scalen wieder nur hin zur Erkenntniß des Menschen: so selbst die Kunst. Die geflügelte Poesie, indem sie über die Erde sich hinwegschwingt, sucht den Himmel nur zu erreichen, um dem so leicht erkaltenden Menschenherzen himmlisches Feuer zu bringen, sie verschließt die Geisterwelt, nur um den Geist des Menschen zu erschließen. Leicht ziehen sich alle Wissenschaften vom Faden der Geschichte durch das Labyrinth des Widerspruches, mit dessen Bekämpfung sich das Problem unsrer Bestimmung löst; alle dienen ihr, sie dient allen; die Unterstützung ist wechselseitig, wie der Genuß. – Die Weltgeschichte also beginnt mit der Menschengeschichte. Die Menschengeschichte (Menschenkunde) ist zweifach, denn es bedingen sich ja in uns Seele und Leib, und beide fordern gleiche Aufmerksamkeit. Sonach umfaßt die Menschenkunde Geologie (Erdkunde, zu unterscheiden von Geographie, Erdbeschreibung), Physik (Naturlehre), Anthropologie (Menschenkunde im engern Sinne) und Geschichte der Humanität (der stufenweisen Ausbildung alles moralischen Lebens). Diese Wissenschaften gehen allen übrigen voran und geben ihnen Gehalt und Anwendung. Was auf diesen Grund weiter gebaut werden soll, bestimmen dann die besonderen Lebens- und Standesverhältnisse. Aesthetik, Geschichte der Kunst, Sprachen und Geschichte der Sprachen, Geschichte der Gewerbe und Erfindungen, Uebung des Styles reihen sich hieran.
B–l.
http://www.zeno.org/DamenConvLex-1834.