London

London

London, die Königin unter Europa's Städten, das Riesenkind der Kultur und Industrie, das Herz einer Monarchie, die ihre Blut- und Schlagadern nach beiden Hemisphären ausstreckt, die Stadt der Extreme und Contraste, die, obgleich großartig, dennoch bei dem Reichthum der Elemente zu einem gewaltigen Ganzen verschmelzen. Hier wohnt alle Hoheit, aller Reiz des Lebens: Adel, Kunst, Wissenschaft, Reichthum, Industrie, politische Kraft, Intelligenz, gepaart mit Armuth, Noth und Lastern aller Art. Diesen prachtvollen Tempeln und schimmernden Palästen stehen elende Hütten, der Aufenthalt des Auswurfs menschl. Gesellschaft, entgegen. Hier schwelgerische Gastmähler, feenhafte Bälle und Feste, und dort Menschen dem Hungertode nahe, und Tavernen, wo Brutalität, Schamlosigkeit und Entartung ihren Sitz aufgeschlagen. London, dieser wechselvolle Schauplatz Alles dessen, in ewigen Rauch und Nebel eingehüllt, zu beiden Seiten der Themse liegend, wird dem Beschauer nur in einzelnen Theilen als Panorama, niemals in seiner Totalität, sichtbar. Einst gab es an beiden Ufern der Themse einen fruchtbaren Landstrich von 95 engl. Quadrat M. mit 100 Dörfern. Er ist verschwunden! Statt der üppigen Felder sieht man 160,000 Häuser, bewohnt von nahe an anderthalb Millionen Menschen, 13,500 Straßen, 110 Märkte und Sauares. Diese staunenerregende Häusermasse enthält nicht weniger als 1100 Buchhandlungen, 9000 Kasse- und Schenkhäuser, 6000 Bierhäuser, 16 Theater, 500 Kirchen, über 4000 Erziehungsanstalten, 95 Armenhäuser, 24 Hospitäler, 66 Gefängnisse, zahlreiche Paläste, Kunstmuseen, Leihbibliotheken und endlich 5290 Brauereien. Man zählt in London mehr als 30 öffentliche Gärten und 6 prachtvolle, theils von Eisen, theils von Quadern erbaute Brücken. Der Tunnel, eine kolossale Straße unter dem Flußbett der Themse, ein Riesenwerk, das an die Bauten einer Semiramis, Zenobia, der Pharaonen etc. erinnert, ist noch nicht vollendet. Um noch einen anderweitigen Maßstab von der Großartigkeit dieser Stadt und ihrem Verkehr zu geben, führen wir noch an, daß es daselbst 15,000 Frachtwagen, 5000 eigene Schiffe, mit 60,000 Matrosen bemannt, 12,000 Bote mit 20,000 Ruderern, die stets auf der Themse beschäftigt sind, 8000 Zollbeamte, 140 Dampfbote, ein Zollhaus, das täglich 15,000 Menschen besuchen, eine Bank mit 1200 Commis, ein Kaffehaus (Lloyds), woselbst täglich 6000 Menschen Geschäfte machen etc., gibt. – Jährlich verschlingt Londons ungeheurer Menschenstrom 110,000 Ochsen, 770,000 Schafe, 250,000 Lämmer, 200,000.Schweine, das Fleisch, welches zur See eingeführt wird, nicht gerechnet; 2500 Ladungen Fische, à 40 Tonnen, 2 Mill. Fässer Bier (à 36 Gallonen), 11 Mill. Gallonen Branntwein, 130,000 Oxthost Wein, 21 Mill. Pfd. Butter, 26 Mill. Pfd. Käse, 8 Mill. Gallonen Milch, für 80,000 Pfd. Sterl. Geflügel und eine unberechnenbare Menge von Wildpret. – Die Stadt liegt in einem blühenden Thale, dessen Anhöhen weit hinaus mit schönen Landhäusern besetzt sind. Auf welcher Seite man sich auch derselben nähert, überall zeigt sich das rege Treiben von Wagen, Posten, Heerden, Gütern und Menschen, welche, angezogen von der magnetischen Kraft des Bedürfnisses und Gewinnes, sich in diese Charybdis stürzen. Die Anfangs noch isolirt stehenden Städtchen und Weiler bilden bald eine zusammenhängende Häuserreihe mit städtischem Anstrich. Noch Meilen weit von der großen Stadt, glaubt man schon in ihrem Gebiete zu sein, und man ist auch im Bereiche ihres Einflusses auf Nahrung, Reichthum und Gewerbe, denn Alles athmet schon eine Nachahmung des nahgelegenen Vorbildes. Der Kutscher ist ein John Bull im langen Rock und Kamaschen, der mit der Würde eines Parlamentsmitgliedes das leichte Viergespann leitet; der Landmann erscheint im schwarzen Frack und Hut, mit weißem Halskragen, glatt geschoren wie ein Dandy, die Bäuerin ziert sich mit Strohhut und Mantel aus Wollenzeug. – Ohne einen großen Abstand zu finden, erreicht man die zur Stadt gehörenden Kirchspiele, die sich von den vorherigen Gegenden durch die Seitenstraßen und die Gasbeleuchtung auszeichnen. Eine weite Tour führt den Fremden nach einem mehr im Innern gelegenen Hotel, und nun befindet er sich mitten in dem Gewühl einer Bevölkerung, die ganz auf den Straßen zu sein scheint. Das Wogen der Fußgänger entlang der breiten Trottoirs, die ununterbrochenen Reihen schwerer, von 4 hinter einander gespannten, großen normännischen Rossen gezogener Bier-, Kohlen- und Lastwagen, die zahlreichen Carossen der Reichen, deren Kutscher im Costüme aus Ludwig's XIV. Zeiten paradiren, die unzähligen Fiakers, Cabriolets, Gigs, diese Lastträger, lärmenden Ausrufer etc. geben das Bild einer systematischen Unordnung. Hier bietet Einer Victualien feil, dort ein Anderer Brochüren und Pamphlete, ein Dritter empfiehlt durch gedruckte Zettel einen renommirten Charlatan, ein Vierter trägt auf einer Stange die grotteske Abbildung irgend einer Sehenswürdigkeit etc. – London ist überall anders, und das Leben der einzelnen Stadttheile oft streng abgeschieden von dem anderer Quartiere. Von Maring cross bis zur Börse und Londonbridge ist das Gebiet des Handels. Hier reiht sich ein glänzendes Gewölbe an das andere, hier halten die Equipagen der schönen Käuferinnen, welche mit wähligem Auge die Erzeugnisse des Luxus betrachten. In den dunklen Nebenstraßen und dem ganzem nach der Themse zu gelegenen Stadttheile sind die Comptoirs der mit Millionen spielenden en gros-Kaufleute, in der Lombardstreet die Bankers oder Wechslerstuben. In diesem Quartiere liegen die berühmte Paulskirche, die ersten Theater, old Bayly, das Haus der Gerechtigkeit, und Newgate, das Gefängniß mit dem volksthümlichen Hängeapparat. Hier in der City tobt das Leben bis nach Mitternacht, wenn längst schon der Handel ruht, in dem von den Theaterbesuchern angefüllten Motton chop am Temple bar, dem Thore des alten Londons, eben so wie in den zahlreichen, von Arbeitern, Gaunern und dem Auswurfe weiblicher Lasterhaftigkeit angefüllten Bier- und Branntweinhäusern. Auf der Gegenseite der Themse liegt High Holborn, das Reich der Victualien, der Smithfields-Platz, wo Millionen lebender Thiere zum Verkaufe eingepfercht stehen und des Sonntags begeisterte Religiosen von einem Tische herab dem Volke predigen. Noch entfernter sind die zur Stadt gezogenen Orte Islington, Hampstead u. s. w., wo die Geschäftsleute der Stadt, Beamte, kleine Rentiers etc. wohnen und von da früh auf Postwagen nach dem Innern der Capitale und Abends zurück eilen. Hier herrscht Ruhe, Reinlichkeit und oftmals wirkliche Oede, obgleich einige, wie Cundîchouse etc., der Sammelplatz niederer Vergnügungen sind. Von der Börse an die Themse hin trägt Alles das Gepräge des Seelebens und Seehandels. Das Haus der ostind. Compagnie, die Ost- und Westindia-Docks, die Werfte, die Häuser der Schiffseigner, Holz- und Fischhändler, die kleinen Hütten der Bootsleute, das Gewühl der Theerjacken bildet einen merkwürdigen Gegensatz zu dem eleganten Leben des vornehmen Quartieres. Hier liegt der Tower, die Festung, wo einst Gräuel sich häuften und jetzt die Menagerie und Kunstsammlungen sich befinden. Am entgegengesetzten Ufer der Themse, wohin die London-Brücke führt und der Tunnel führen wird, sind Rottserhite und Southwark, ein gemischtes Gebiet des Victualien- und Trödelhandels, Niederlagen mit Schifffahrtsbedürfnissen, Fabriken und Brauereien. Der Verkehr ist ungeheuer, die Passage über die Brücken oft stundenlang erschwert. Die Brauerei von Barkley, Perkins und Comp. ist eine kleine Stadt mit 99 Vorrathsständen, jeder von 800 bis 3000 Faß Inhalt, was einen Werth von mehr als 2 Mill. Thalern gibt. In dieser Gegend liegt Kingsbench, das Schuldgefängniß, das berühmte Matrosen-Invalidenhaus Greenwich mit seiner Sternwarte, Spitalfield, das Reich der armen Weber, die durch frühzeitige und übertriebene Arbeit verkrüppeln. White chapel und St. Georgesfield sind die Schlupfwinkel und die Schule der Diebs- und Gaunerbanden. Ein ganz anderes Bild zeigt sich im Westende der Stadt, dem Bereiche der Paläste und des seinen Lebens, dem Wohnsitze der Aristokratie und des eminenten Reichthumes, wo Familien in einem Jahre eine Summe zum Lebensunterhalt brauchen, deren Besitz auf dem Continente das Prädikat »reich« verleihen würde. Hier sind breite, schöne Straßen, im edlen Stil gebaute, mit Säulen gezierte Prachtgebäude, hier hängt bei Todesfällen das Wappen vor dem Fenster, hier ist der Schauplatz der elegant und negligeant gekleideten Dandy's, die Region des Spiels, der Athenäen, Clubbs, Routs, der berühmten Almakbälle, zu denen nur Reichthum, Rang und die Gunst einer dabei herrschenden Patronin den Zutritt erlauben. Von hier eilen die Wagen nach Hyde-Park, woselbst oft 10,000 Equipagen mit Londons Schönheiten geziert dem Anblicke ritterlicher Fashionables erscheinen. Hier liegt die Westminsterabtei mit verdienten und erkauften Denkmälern, das Parlamentsgebäude, jenseits der Westminsterbrücke das Vauxhall, der Sammelplatz für Frühjahrsvergnügen, und als Gegensatz das traurige, thurmartige Gebäude Pocnitentiary, wo junge Verbrecher gebessert werden. Wie todt wird aber dieses Quartier der Grandezza, wenn das Parlament geschlossen ist und die Landsaison beginnt; ungeschwächt dagegen bleibt das Getümmel der andern Theile. Ziemlich spät des Morgens beginnt das Treiben, und die Nacht wird zum Tage. Nur der Sonntag hemmt die gewaltige Geschäftigkeit, tiefe Stille ruht auf den Straßen die schweigsame Wanderer pärlich beleben; der Verkauf selbst des Nothdürftigsten ist verpönt, kein Ton der Musik, kein Gelächter erschallt, und der weltlich Denkende muß in den Landbezirken Genuß und Unterhaltung suchen oder bei fremdländischen Wirthen des Westendes einkehren. Nur die vielen Kapellen und Kirchen, die häufig zwei und mehrere Male besucht werden, zeugen von Bevölkerung. – Was die Theater Londons betrifft, so sind sie ein Bild der verschiedenen Elemente seiner Bewohner. Die italienische Oper mit ihren hohen Preisen und der Sitte, in Escarpins erscheinen zu müssen, ist der Sammelplatz der feinsten Welt, Coventgarden und Drurylane füllt das gebildete Publikum, Adelfi und Sadler Wells die Bürgerklasse und die Matrosen. Es gibt eine feststehende Bühne für Reitkünstler und ein Theater, das zur Aufführung von Seestücken mit Wasser gefüllt werden kann. Merkwürdig ist die Faschingszeit, wo Possen aufgeführt werden, die außer dem italienischen Maskenpersonale des Pantalon, Arlequin, Pierot etc. noch einen Irländer und einen Schottländer voll derber Witze, so wie auch eine Hexe etc. auftischen. – London ist eine Welt! Auf engem Raume läßt sich kein genügendes Bild davon entwerfen; man muß es in seinen Eigenthümlichkeiten nach allen Richtungen hin durchforschen, eine genauere Kenntniß desselben bedarf des Studiums, und zu einer vollendeten würde kaum ein Menschenalter zureichen! –

5.


http://www.zeno.org/DamenConvLex-1834.

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